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„Ein Wettkampf ist wie ein Konzert“

Vor den WM im Paracycling


Ihre Schüler müssen schon lange auf die Stunden bei ihrer Violinlehrerin verzichten. Dorothee Vieth ist mal wieder für ihren Sport unterwegs. Wie schon seit Ende Mai. Weg aus Hamburg. Stattdessen hat sie zuletzt zwei Wochen Höhentrainingslager in St. Moritz mit der deutschen Nationalmannschaft absolviert, dann eine Woche Schwarzwald rund um den Weltcup in Elzach.

Und ab kommenden Donnerstag steht in Nottwil in der Schweiz die Weltmeisterschaft im Paracycling an. Die Hamburgerin startet dabei mit ihrem Handbike in der knienden Klasse H5 als eine der Favoritinnen. Wenn sie wiederkommt, hat sie ihren Schülern wieder einiges zu berichten. „Die finden das cool, dass ihre Lehrerin so sportlich ist“, lacht Dorothee Vieth, „ich bin halt keine Geigenlehrerin mit Dutt und Brille.“

Auf den anspruchsvollen sieben Kilometern in der Schweiz wird sie sich im Zeitfahren und im Straßenrennen wieder ein heißes Duell mit ihrer Dauerrivalin Andrea Eskau liefern. „Ich gehe davon aus, dass beide bei der WM um die Medaillen mitfahren werden“, sagt Bundestrainer Patrick Kromer. „Wichtig ist, dass wir als Nation möglichst viele Punkte für Startplätze in Rio sammeln“, erklärt der Coach. Die Fahrer aus Italien und den USA seien die stärksten Kontrahenten.

Die Magdeburgerin Eskau, die auch im nordischen Skisport aktiv ist, war in den vergangenen Jahren immer ein bisschen erfolgreicher als Vieth. Sie gewann Gold bei den Paralympics 2012 in London beim Zeitfahren und auf der Straße, Vieth wurde Zweite und Dritte. In Peking 2008 siegte Eskau im Straßenrennen, Vieth holte Bronze.

So war es meist – bis 2014. „Seitdem hat Dorothee Vieth sich noch einmal stark verbessert“, erklärt Kromer, „das muss man absolut anerkennen“. Die Hamburgerin konnte in diesem Jahr bereits zwei Weltcuprennen für sich entscheiden, präsentiert sich in toller Form: „Ich bin tatsächlich sehr zufrieden, wie es bisher gelaufen ist“, sagt sie.

Wobei ein Teil des Erfolges sicher auch mit ihrem neuen Handbike zu tun hat. Eine Videoanalyse von der letzten WM hatte ergeben, dass sie an einem Anstieg immer Boden auf die anderen Spitzenfahrer verloren hatte. Entscheidend ist, die Kraft aus dem Oberkörper ideal auf die Pedalen zu bringen, dafür müssen Mensch und Maschine optimal aufeinander abgestimmt sein.

Dorothee Vieths vorheriges Rad war bereits sieben Jahre alt, es musste etwas passieren. „Ohne neues Rad hätte ich keine Chance auf Rio gehabt“, ist sie überzeugt. Also ist die Sportlerin, die dem Top Team für die Spiele in Rio 2016 angehört, volles Risiko gegangen und hat sich ein neues Gefährt bauen lassen. Exakt auf sie angepasst, absolute Maßarbeit. Alles muss stimmen – „auf diesen Sitz passe nur ich“, sagt sie.

20.000 Euro kostet so ein High-Tech-Sportgerät insgesamt, das ist eine Menge Holz. „Mein Verein – der Hamburger SV – und die Alexander-Otto-Stiftung haben mir sehr großzügig geholfen“, betont Vieth, „dafür bin ich sehr dankbar“.

Nun kann sie also Richtung Rio voll angreifen. Die Chancen für eine Nominierung stehen gut, mit 55 Jahren würde sie in Brasilien ihre dritten Paralympischen Spiele erleben. Ist das nicht ein bisschen alt für eine Hochleistungssportlerin?

„Man muss zwischen Lebensalter und Sportalter unterscheiden“, erklärt Dorothee Vieth, die erst 2002 nach einem Unfall mit einem Motorroller und anschließender Lähmung der Bein- und Gesäßmuskulatur links ins Handbike gestiegen ist. „Außerdem ist bei unserem Sport die Ausdauerleistung wichtig, und da sind ältere Athleten oft stark – auch bei den Nicht-Behinderten.“ Auch Andrea Eskau ist übrigens bereits 44 Jahre alt.

Nach der ersten Teilnahme am Hannover-Marathon 2004 war sie angefixt vom Sport, sie blieb dabei, machte mehr, wurde besser und besser, betreibt den Sport längst wie ein Profi. Die Vorspannung, die Nervosität, den Wettkampf – das braucht sie. Und das kennt sie irgendwie aus ihrem „bürgerlichen“ Beruf als Geigenspielerin und -lehrerin: „Ein Rennen ist wie ein Solo in einem Konzert. Du übst täglich, du bereitest dich vor und dann kommt der eine Moment, wo du das Erarbeitete abrufen musst. Dann muss es funktionieren. Eine zweite Chance gibt es nicht.“

Die beste Nation beim Weltcup in Elzach will auch bei der WM angreifen

Sollten die Weltmeisterschaften in Nottwil (Schweiz) ähnlich erfolgreich verlaufen wie der Weltcup im heimischen Elzach (Baden-Württemberg) – Bundestrainer Patrick Kromer würde wohl aus dem Feiern gar nicht mehr herauskommen. Bei der Generalprobe im Schwarzwald präsentierte sich das deutsche Paracycling Team in blendender Verfassung.

Mit insgesamt 22 Medaillen, darunter neunmal Gold, landeten Kromers Athletinnen und Athleten sogar auf Platz eins der Nationenwertung. Eine optimale Ausgangsposition so kurz vor der Weltmeisterschaft, die am Mittwochabend (29. Juli 2015) mit einer Team-Entscheidung eröffnet wird. „Bei der WM wollen wir natürlich gerne ähnlich gut abschneiden“, betont Patrick Kromer. Teammanager Tobias Engelmann ergänzt: „Wir reisen mit Rückenwind und guten Gefühlen in die Schweiz.“

Das liegt nicht zuletzt an den tollen Resultaten in Elzach. Erfolgreichste Athleten waren Christiane Reppe (Starklasse H4) und Hans-Peter Durst (T2), die im Einzelzeitfahren und im Straßenrennen jeweils einen Doppelsieg feierten. Ganz nach oben aufs Treppchen schafften es außerdem Dorothee Vieth (H5) im Zeitfahren sowie Max Weber (H3), Andrea Eskau (H5), Pierre Senska (C1) und Vico Merklein (H4) im Straßenrennen. Weitere Podestplatzierungen gelangen außerdem Denise Schindler (C3), Michael Teuber (C1) und Kerstin Brachtendorf (C5), die jeweils zweimal Zweiter wurden, sowie Steffen Warias (C3; Zweiter im Zeitfahren), Max Weber (Zweiter im Zeitfahren), Vico Merklein (Dritter im Zeitfahren), Jana Majunke (T2; Zweite im Zeitfahren, Dritte im Straßenrennen) und Silke Pan (H4; Dritte im Zeitfahren und im Straßenrennen).

Damit kletterte das deutsche Team im Medaillenspiegel ganz nach oben. „Dabei war fast die gesamte Weltelite am Start. Dass wir vor den USA landen, ist richtig stark und nicht alltäglich“, freute sich Tobias Engelmann. Vielleicht lag es auch am tollen Publikum im Schwarzwald. Zahlreiche Zuschauer feuerten die Sportler an der Strecke und besonders im Zielbereich lautstark an. „Es war die Hölle los, die ganze Stadt war auf den Beinen“, berichtet der Teammanager vom Trubel rund um den Weltcup. „Unsere Sportler waren dadurch extrem motiviert, das hat man eindeutig gespürt.“

Jagd nach Medaillen – und Startplätzen für Rio

Das wird sich bei der Weltmeisterschaft in der Schweiz nicht ändern. Nach dem Team-Wettbewerb mit dem Handbike-Trio Vico Merklein, Max Weber und Mariusz Frankowski am Mittwoch zum Auftakt geht es Donnerstag und Freitag mit dem Zeitfahren weiter, ehe Samstag und Sonntag die Straßenrennen auf dem Programm stehen.

„Wir sind fit und sehr gut vorbereitet“, betont Bundestrainer Patrick Kromer. Einzig Michael Teuber hat sich vor gut einer Woche einen Bänderriss im Sprunggelenk zugezogen, wird allerdings dennoch an den Start gehen. Schließlich geht es bei der WM in Nottwil nicht nur um Medaillen, sondern auch um Startplätze für die Paralympics in Rio.

Das deutsche WM-Aufgebot: Christiane Reppe (Dresden/GC Nendorf/H4), Vico Merklein (Babenhausen (Hessen)/GCNendorf/H4), Andrea Eskau (Magedburg/HSC Magdeburg/H5), Pierre Senska (Berlin/PSC Berlin/C1), Thomas Schäfer (Wernigerode (Sachsen-Anhalt)/RSG Bad Harzburg/C4), Denise Schindler (Dachau/BSV München/C3), Hans-Peter Durst (Dortmund/Sturm 1925 Homburg/T2), Kerstin Brachtendorf (Ettringen (Rheinland-Pfalz)/BPRSV Cottbus/C5), Jana Majunke (Cottbus/BPRSV Cottbus/T2), Dorothee Vieth (Hamburg/Hamburger SV/H5), Bernd Jeffré (Barmissen (Schleswig-Holstein)/GC Nendorf/H4), Tim Kleinwächter (Bad Windsheim (Bayern)/SC DHfK Leipzig/B), Erik Mohs (Leipzig/SC DHfK Leipzig/Pilot), Erich Winkler (Geisenhausen (Bayern)/TV Geisenhausen/C1), Steffen Warias (Allschwil (Schweiz)/RVC Reute/C3), Michael Teuber (Dietenhausen (Bayern)/BSV München/C1), Torsten Purschke (Waibstadt (Baden-Württemberg)/GC Nendorf/H4), Mariusz Frankowski (Frankfurt/TV Waldstraße Wiesbaden/H2), Silke Pan (Aigle (Schweiz)/GC Nendorf/H4), Max Weber (Obergünzburg (Bayern)/TSV Obergünzburg/H3), Christian Vaith (Deggendorf (Bayern)/RSV Irschenberg/B), Marcel Kalz (Berlin/RSV Irschenberg/Pilot).

Kevin Müller
Pressereferent Leistungssport & Paralympics
Kommunikation & Events
Deutscher Behindertensportverband e.V. – National Paralympic Committee Germany


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